von Joanna Gösmann
Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.
Richard von Weizsäcker über die NS-Zeit und die daraus erwachsene Verantwortung
(Rede vom 08. Mai 1985; 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa)
Erinnerungslernen – eine religionspädagogische Betrachtung
Mit dem Erinnerungslernen im deutschsprachigen Raum ist das historische und gesellschaftliche Gedenken an den Holocaust gemeint. Die Erinnerung an dieses Verbrechen ist nicht nur rückwärtsgewandt zu verstehen. Auch wenn das Gedenken der Vergangenheit der Grundstein für das Erinnerungslernen ist, so soll es auch in der Gegenwart und in der Zukunft wirken. Für Schülerinnen und Schüler bedeutet dies, dass sie auf Grundlage vergangener Ereignisse für den gegenwärtigen Prozess in der Welt sensibilisiert werden. Sie sollen befähigt werden Hass, Ausgrenzung, Rassismus und Antisemitismus zu erkennen, kritisch zu bewerten und gegen diesen zu kämpfen.
Die Verknüpfung von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsorientierung weist eine hohe Nähe zu religiösen Lehr- und Lernprozessen auf. Die jüdisch-christliche Tradition umfasst diese drei Bereiche: Der Blick auf die Bibel und die Tradition orientieren sich an vergangenen Ereignissen, gleichzeitig richtet sich der Blick auf das gegenwärtige und zukünftige Zusammenleben der Menschen. Daher sind religiöse Lehr- und Lernprozesse stets erinnerungssensibel.[1]
Zudem „kann sich religiöse Bildung nie neutral zu Themen der Erinnerung verhalten“.[2] Vor dem Hintergrund, dass Jesus, als die zentrale Person des christlichen Glaubens, Jude war und die gesamte christliche Tradition auf jüdischen Wurzeln basiert, muss aus der theologischen Motivation heraus allen judenfeindlichen Tendenzen eine klare Absage erteilt werden. Christentum kann nicht ohne Judentum gedacht werden. Auch hat die katholische Kirche, vor dem Hintergrund ihrer historischen Vergangenheit, heute eine besondere Verantwortung gegenüber der Achtung, Wertschätzung und Bewahrung jüdischer Werte und Kultur sowie jüdischen Lebens in Deutschland.
Das Erinnerungslernen muss folglich auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes und vor dem Gebot der Nächstenliebe gedacht werden, was für Christinnen und Christen einen besonderen Stellenwert hat. Daraus ergeben sich auch Motivation und Ziele des Kernlehrplans[3]: Schülerinnen und Schüler sollen „Verantwortung für das friedliche Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen übernehmen“. Dies funktioniert nur vor dem Hintergrund des Erinnerungslernens.
Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen sind ein zwingender Grund Erinnerungslernen in den Fokus schulischer und religionspädagogischer Arbeit zu legen: Betrachtet man die jüngere Vergangenheit, so ist ein wachsender Antisemitismus zu beobachten. Alleine im Jahr 2020 wurden 2275 antisemitische Straftaten in Deutschland verübt, was den traurigen Höchststand der letzten 20 Jahre darstellt.[4] Ein besonders erschreckendes Beispiel ist der Anschlag eines Rechtsextremisten auf eine Synagoge in Halle am 09. Oktober 2019, der zwei Menschenleben kostete. Außerdem wurde am 15. September 2021 ein islamistischer Anschlag auf die Hagener Synagoge glücklicherweise verhindert.
Erinnerungsgeleitete Religionspädagogik zielt auf die Bildung der Menschen im gesamten politischen und gesellschaftlichen Kontext ab. Schülerinnen und Schüler sollen in Fragen von Menschenrechten, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Demokratieerziehung sensibilisiert und gestärkt werden, um für die Grundrechte, Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität jederzeit einzustehen.
Lernen mit Emotionen
Für die Bildung von Erinnerungen ist die emotionale Einbettung entscheidend. Man kann sich vor allem an das erinnern, was mit Gefühlen verknüpft ist. Dabei ist es nicht entscheidend, ob diese als positiv oder negativ wahrgenommen werden. Emotionen bewerten die Bedeutung von Ereignissen und sind immer Gegenstand des Erinnerns.[5]
Ereignisse, wie der systematische Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, die nur schwer zu begreifen sind, werden an einem konkreten Ort sichtbar, fühlbar und in der Gegenwart der Schülerinnen und Schüler realer. In dieser Verbindung von kognitivem Wissenserwerb und emotionalem Zugang liegt der Schlüssel zur eindrucksvollen, nachhaltigen und prägenden Erweiterung des schulischen Lernens. Deshalb sind außerschulische Lernorte für das Erinnerungslernen unersetzlich und spielen in diesem Erziehungsprozess eine tragende Rolle.[6] Erinnerungslernen im religionspädagogischen Sinne kann nur in der Verknüpfung von Theorie und Praxis funktionieren. Um den Schülerinnen und Schülern einen angemessenen Zugang zu gewähren, sollte die Fokussierung auf Biografie- und Ortsorientierung liegen.[7] Im Folgenden wird die Realisierung von Erinnerungslernen im praktischen Kontext anhand von drei Beispielen näher erläutert: Eine Projektarbeit zu einer historischen Persönlichkeit, der Besuch einer Gedenkstätte im Rahmen einer schulischen Unterrichtsreihe sowie eine mehrtägige Gedenkstättenfahrt.
Erinnerungslernen an außerschulischen Lernorten
Die persönliche Auseinandersetzung mit einzelnen jüdischen Schicksalen ist ein wichtiges Element des Erinnerungslernens. Aufgrund des persönlichen Zugangs entsteht eine besondere Verbindung zu diesen Menschen und ihren Geschichten. Neben der Biografie- wirkt sich auch eine Ortsorientierung positiv auf das Erinnerungslernen aus, da die räumliche Nähe zusätzliche Verbundenheit schafft. Dieser exemplarische Zugang achtet im Rahmen einer Projektarbeit die Bedürfnisse der Lernenden im besonderen Maße: er lässt ihren Fragen und Zweifeln viel Raum und räumt ihnen eine aktive Rolle im Lernprozess ein.
Zeitzeugen
Beispielhaft ist hier das Projekt eines Religionskurses der Realschule Grünstraße in Hattingen aus dem Jahr 2016 zu nennen. Neun Schülerinnen und Schüler begaben sich im Anschluss an ihre Unterrichtsreihe zu „Christen und Juden – Erinnerung und Neuanfang“ auf Spurensuche zu einer ihrer jüdischen Bürgerinnen, der Silberschmiedin Emmy Roth. Sie wurden damit Preisträger des „Dr. Otto Ruer-Preises“, der verliehen wird, um jüdisches Leben zu fördern und die Erinnerung an Persönlichkeiten, die im Gemeindegebiet Bochum, Herne und Hattingen lebten, wachzuhalten. Bei der Suche nach Informationen wurden sie nicht nur von ihrer Religionslehrerin Judith Nockemann aktiv unterstützt, sondern recherchierten auch über internationale Suchportale, beispielsweise über die „zentrale Datenbank der Opfer des Holocaust“ der Gedenkstätte Yad Vashem. Zudem besuchten die Schülerinnen und Schüler teilweise eigenständig, zum Teil gemeinsam mit ihrer Lehrerin während Unterrichtsgängen und auch während ihrer Freizeit das Stadtarchiv, um weitergehend zur Familiengeschichte zu forschen. Viele kleine Mosaiksteine zu Emmy Roth konnten die Schülerinnen und Schüler zu einem Bild zusammensetzen. Auf Grundlage dieses Bildes gestalteten sie das Facebookprofil „Emmy Roths Weg“ und drehten ein Video zu ihren Erkenntnissen. An vielen Stellen arbeiteten die Schülerinnen und Schüler interessenorientiert und eigenständig, benötigten aber immer wieder eine helfende Hand und neue Denkanstöße. Die Lehrkraft steht bei eigenständigen oder auch schulisch geleiteten Projekten als Lernbegleiter und Moderator an der Seite der Schülerinnen und Schüler.
Gedenkstätten
Im Rahmen des Inhaltsfeldes V „Kirche in der Nachfolgegemeinschaft“[8] lässt sich das Unterrichtsvorhaben „Kirche in der NS-Zeit: Anpassung und Widerstand – Kirche in den Herausforderungen unserer Zeit“ für die Jahrgangsstufe 10 realisieren.
Innerhalb dieser Unterrichtsreihe wird der Blick auf das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus geworfen, insbesondere werden das Reichkonkordat und die damit einhergehende offizielle Billigung und Akzeptanz der Diktatur kritisch beleuchtet. In einem kurzen Exkurs wird daran anschließend die Entwicklung der evangelischen Kirche im Spannungsverhältnis der bekennenden Kirche und der „Deutschen Christen“ betrachtet. Außerdem thematisiert das Unterrichtsvorhaben die mangelnde Solidarität mit der Unterdrückung, Ausgrenzung und Verfolgung verschiedener Bevölkerungsgruppen, insbesondere der Jüdinnen und Juden, vor dem Hintergrund des christlichen Menschenbildes. Abschließend lenkt die Unterrichtsreihe aber auch den Blick auf herausragende Persönlichkeiten katholischen und evangelischen Glaubens, die sich entschieden gegen die nationalsozialistische Diktatur, gegen Verfolgung und Unterdrückung gestellt haben: Beispielhaft werden hier Biografien christlicher Widerstandskämpfer wie Maximilian Kolbe, Clemens August Kardinal Graf von Galen, Hermann Lange, Dietrich Bonhoeffer oder Cato Bontjes van Beek erarbeitet und kritisch hinterfragt. Ziel der Unterrichtsreihe ist neben dem Wissenserwerb vor allem der Aufbau einer Urteilskompetenz, um „an geschichtlichen Beispielen erläutern zu können, in wie weit Kirche ihrem Auftrag gerecht wurde“. Um ein solches Unterrichtsvorhaben nachhaltig zu festigen und in Erinnerung zu behalten ist eine emotionale Verknüpfung von entscheidender Bedeutung.
Am stärksten erlebbar wird das Erinnerungslernen bei Fahrten zu Gedenkstätten. Nicht nur weiter entfernt liegende Gedenkstätten lohnen einen Besuch, auch nahe gelegene können den Schülerinnen und Schülern die Schrecken, Unterdrückung und Menschenverachtung der nationalsozialistischen Herrschaft vor Augen führen. Ein naher gelegener Ort des Erinnerns im östlichen Ruhrgebiet stellt die Steinwache Dortmund dar. Das ehemalige Polizeigefängnis in der Nordstadt bietet eine dauerhafte Ausstellung zu „Widerstand und Verfolgung in Dortmund 1933-1945“. Die Ausstellung befasst sich dabei nicht nur mit der Dortmunder Stadtgeschichte, sondern auch mit der regionalen und nationalen. Die Ausstellung erstreckt sich auf drei Etagen. Zunächst werden anhand von Fotos, Zeitzeugenberichten und historischer Exponate die Anfänge der NS-Diktatur thematisiert und darauf aufbauend sowohl die städtische als auch die den Regierungsbezirk Arnsberg umfassende Verfolgung und Zerschlagung von verschiedenen Organisationen. In der zweiten Etage lernen die Schülerinnen und Schüler konkret lokale politische Opfer des Nationalsozialismus kennen. Verschiedenen verfolgten und inhaftierten Dortmunderinnen und Dortmundern wird so ein Gesicht gegeben und an sie erinnert. Die letzte Etage beschäftigt sich im Speziellen mit den Verfolgten sowie den Religionsgemeinschaften zur Zeit des Nationalsozialismus. Hier wird einerseits der Blick auf die Anpassung, den Widerstand und Verfolgung der christlichen Kirchen in Dortmund und der Umgebung gerichtet. Andererseits wird auch auf die brutale Verfolgung der Zeugen Jehovas und der Juden sowie der Sinti und Roma eingegangen. Die Brutalität der nationalsozialistischen Herrschaft kann in den Kellerräumen in kleinsten Ansätzen nachempfunden werden. Hier gibt es eine Ausstellung zu den Konzentrationslagern, zur Euthanasie, zu den Massenmorden der Dortmunder GeStaPo und die Nachbildung einer ehemaligen Folterzelle. Besonders beeindruckend sind hier die erhaltenen Wandinschriften, die Häftlinge zur Zeit ihrer Internierung für die Nachwelt hinterlassen haben. Für Schulklassen kann auch eine Stadtführung zu „Dortmund und der Holocaust“ gebucht werden. Es werden verschiedene relevante Punkte innerhalb der Dortmunder Innenstadt angelaufen, die mit der antisemitischen Verfolgung in Verbindung stehen. Gerade weil sich in der Steinwache Dortmund eine komplette Ausstellung mit dem Thema „Religion während der NS-Zeit“ auseinandersetzt bietet sich eine Exkursion im Zuge des Religionsunterrichts im Besonderen an.
Studienfahrt
Eine mehrtägige Gedenkstättenfahrt ist sicherlich die intensivste und emotionalste Art im Rahmen des Erinnerungslernen. Eine solche Studienfahrt hinterlässt bei den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern tiefe Eindrücke und das Erinnerungslernen wird hier in besonderer Weise geschult. Im Rahmen einer mehrtägigen Gedenkstättenfahrt können die Ziele des Erinnerungslernens am eindrucksvollsten herausgearbeitet werden, die Bedeutung einer solchen Fahrt im besonderen Maße hervorzuheben.
Um die hohen Ziele des Erinnerungslernens erreichen zu können, sollte eine Kooperation zwischen verschiedenen Fächern als Vorbereitung erfolgen. Neben den Fächern Geschichte und Religionslehre wird die Thematik des Nationalsozialismus auch in Deutsch und Sozialwissenschaften unter verschiedenen Blickwinkeln intensiv bearbeitet. Im Rahmen dieser Unterrichtsvorhaben haben die Schülerinnen und Schüler bereits eine Vielzahl von Kompetenzen im Rahmen der Kernlehrpläne erzielt. Auf der Studienfahrt wird dieses erworbene Wissen mit konkreten Orten sowie einem emotionalen Zugang verbunden und auf diese Weise das Erinnern langfristig gesichert.
Die Fritz-Steinhoff-Gesamtschule Hagen führt seit zehn Jahren eine fünftägige Studienfahrt zum ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau bei Krakau durch, die im Folgenden exemplarisch erläutert wird.
Um den Lernenden den Einstieg in diese emotional sehr aufwühlende Woche zu erleichtern, wird am ersten Tag das historische Krakau besichtigt und die ehemalige Königsstadt von ihrer glänzenden Seite kennen gelernt. Am darauffolgenden Tag erfolgt der eigentliche Einstieg in die Thematik der Gedenkstättenfahrt: die Besichtigung des jüdischen Krakaus, das Stadtviertel Kazimierz. Neben der Besichtigung der alten Synagoge und des ehemaligen Krakauer Ghettos werden auch verschiedene Drehorte des Spielfilms „Schindlers Liste“, die in Kazimierz liegen, der Platz der Ghettohelden und das Museum „Emaillefabrik Oskar Schindler“ besucht. Aufgrund der Schilderungen während der Führung wird nun erworbenes Wissen mit konkreten Orten verankert und einem emotionalen Zugang verbunden. Der Grundstein für erfolgreiches Erinnerungslernen wird an dieser Stelle gelegt.
Zur Vorbereitung auf die bevorstehenden zwei Tagesausflüge nach Auschwitz wird der Film „Die Grauzone“ abends gemeinschaftlich geschaut. Bei diesem Film wird allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern endgültig bewusst, auf was sie sich mit dem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau einlassen. Die Geschichte der „jüdischen Sonderkommandos“ wird in dem Spielfilm so brutal und ehrlich erzählt, dass man sie kaum ertragen kann.
Die beiden Ausflüge, zunächst ins ehemalige Stammlager Auschwitz I und am nächsten Tag ins ehemalige Vernichtungslager Birkenau, sind für die Schülerinnen und Schüler unglaublich bewegend und nur schwer in Worte zu fassen. Die Museen und die begleitenden Fremdenführer haben die Thematik auf grausame, harte und zugleich betroffen und mitfühlende Weise präsentiert: Viele Orte in Auschwitz und Birkenau bleiben in Erinnerung, hier sind nur einige wenige aufgezählt: die Besichtigung der Baracken des Stammlagers, an deren Wänden Bilder von ermordeten Insassen ausgestellt sind; die Todesbaracken im Stammlager, in denen auch Maximilian Kolbe seine letzten Tage verbrachte und in dessen Zelle Blumen niedergelegt sind; die Ausstellungen, in denen die Koffer, Haare und Schuhe der Millionen Opfer gezeigt werden; eine Sonderausstellung, in der Bilder gezeigt werden, die Kinder in Auschwitz angefertigt haben; die Kälte im Vernichtungslager Birkenau; die Todesbaracke in Birkenau; ein schwarzer See, in dem die Asche von tausenden ermordeten Menschen liegt; die Betrachtung eines ausgestellten Eisenbahnwaggons, dessen Räder zum Teil im Hagener Stadtteil Haspe gefertigt wurden. Diese plötzliche Nähe zum Heimatort ist erschreckend und verdeutlicht einmal mehr, dass nicht nur „Fremde“, sondern auch Personen aus der eigenen Stadt indirekt an der Vernichtung von Millionen von Menschen beteiligt waren.
Immer schwieriger wird das Treffen mit Zeitzeugen, was bei der letzten stattgefundenen Krakaufahrt 2019 noch möglich war. In der Krakauer Umgebung leben nur noch rund eine handvoll jüdische Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Ihre Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und den Konzentrationslagern sind unterschiedlich. Zwei der Zeitzeugen haben den Schrecken und die Angst im Konzentrationslager miterlebt und berichten von diesen. Eine „Zeitzeugin“ wurden als Baby jüdischer Eltern von katholischen Bauern aufgenommen, adoptiert und somit gerettet. Ihre leiblichen Eltern fielen dem Holocaust zum Opfer. Erst als erwachsene Frau erzählten ihr ihre Eltern von ihrer jüdischen Herkunft und ihrer tragischen Familiengeschichte. Diese Zeitzeugentreffen sind ebenfalls sehr bewegend und hinterlassen bei den Schülerinnen und Schülern einen prägenden Eindruck. Es verdeutlicht noch einmal mehr, dass hinter der Anonymität einer Zahl wie 6.000.000 wirklich konkrete Personen und Schicksale stehen.
Am Abend erfolgt im Anschluss an das Treffen mit den Zeitzeugen eine tiefergehende Reflexion des Erlebten. Diese Reflexion beginnt stets gemeinschaftlich, um den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben ihre persönlichen Eindrücke und Gefühle zu schildern. Da vielen Lernenden die Worte nach vier emotional belastenden Tagen fehlen, setzen sie sich zur Verarbeitung anschließend individuell und kreativ mit dem Erlebten auseinander, so dass Kunstwerke oder Texte zu den Erlebnissen entstehen.
Am letzten Tag einer Studienfahrt sollte nun wieder eine Brücke in die Gegenwart geschlagen werden: Eine Möglichkeit stellt der Besuch des neuen jüdischen Gemeindezentrums mit einem Treffen des Gemeindevorsteher der Krakauer Gemeinde dar. Die Erfahrungen und Erlebnisse werden noch einmal gemeinsam reflektiert und verbinden damit die Elemente, die Erinnerungslernen ausmachen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieser abschließende Blick auf den Neuanfang nach der Zerstörung stiftet dafür Hoffnung und Mut, dass neue Türen geöffnet werden, dass Raum für Frieden und Aussöhnung existiert und, dass diese Aussöhnung von allen Seiten gelebt wird. Mit diesen positiven Gefühlen können die Lernenden den Heimweg antreten. Doch um es noch einmal mit den Worten Richard von Weizsäckers zu sagen:
Versöhnung ohne Erinnerung kann es nicht geben. (Rede vom 08. Mai 1985; 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa)
Abschluss – Ausblick – Appell
In diesem Artikel wurden lediglich drei Möglichkeiten des außerschulischen Erinnerungslernens vorgestellt. Es gibt viele weitere Möglichkeiten das Erinnerungslernen mit außerschulischen Lernorten zu verknüpfen und damit das Denken, Fühlen und Handeln der Schülerinnen und Schüler nachhaltig zu prägen, beispielsweise das Reinigen von Stolpersteinen oder die Durchführung von Gedenkveranstaltungen. In jeder Stadt lassen sich Orte des Erinnerns und des Gedenkens finden, in jeder Stadt gibt es Biografien, die erforscht werden können. Nutzen Sie diese Gedenkorte und Personen, um kommenden demokratischen Generationen eine geschichtsbewusste und humanistische Gestaltung der Gegenwart zu ermöglichen.
Zur Autorin:
Joanna Gösmann unterrichtet an der Fritz-Steinhoff-Gesamtschule in Hagen die Fächer katholische Religionslehre, Mathematik und Musik. Gleichzeitig ist sie am ZfsL Lüdenscheid als Fachleiterin für die Fächer katholische Religionslehre und Mathematik tätig. In ihrer Freizeit liest sie gern. Darüberhinaus ist sie aber auch sportlich in einem Triathlon- und Leichtathletikverein aktiv.
[8] Vgl. KLP katholische Religionslehre für Gesamtschulen in NRW