Auf die Suche nach dem Zweck von Kirche gehen
Das Thema Kirche ist noch weiter von der Lebenswelt der Schüler entfernt ist als das Thema Religion. Ganz vereinzelt treffe ich noch auf Messdienerinnen oder Jugendliche, die sich kirchlich engagieren, aber die weitaus meisten christlich sozialisierten Schülerinnen haben mit Firmung oder Konfirmation ihr Abschiedsfest von der Kirche gefeiert und keinerlei Berührungspunkte mehr mit kirchlichem Leben. Daneben stellt die beschriebene religiös heterogene Schülerschaft gerade für die Beschäftigung mit ekklesiologischen Fragstellungen in der Jahrgangsstufe 13 eine besondere Herausforderung dar. Außerschulische religiöse Lernorte bieten auch hier Chancen, diesen Herausforderungen produktiv zu begegnen.
Mein Ansatzpunkt liegt in der Beobachtung, dass Schülerinnen die Kirche nicht abschaffen wollen, obwohl sie für ihr eigenes Leben nahezu bedeutungslos geworden ist. „Es ist gut und wichtig, dass Kirche sich um Menschen kümmert, die es schwer haben, damit sie einen Halt in ihrem Leben haben“, so höre ich oft. Grundsätzlich halten junge Erwachsene auch Angebote für wichtig, die dem Sinn des Lebens nachgehen oder beim Finden des eigenen Wegs im Leben und der Frage nach der Bedeutsamkeit des Daseins helfen. Vor diesem Hintergrund kann die Frage nach dem Sinn oder nach dem Zweck von Kirche sinnvolle Lernprozesse eröffnen: Was soll Kirche eigentlich leisten, was ist ihr Auftrag? Das mag ungewöhnlich sein und dem, was dogmatischen Überlegungen und lehramtlichen Überzeugungen zufolge Kirche oder ihr Wesen ausmacht, nur wenig gerecht werden. Nimmt man aber das Wirken Jesu ernst, der sich Menschen am Rand zugewandt und ihnen gedient hat, ist die Frage danach, was Kirche für die Menschen leistet, mehr als angebracht. Auch Papst Franziskus fordert in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium eine „Kirche im Aufbruch“: „Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist.“[11]
Bei dem hier vorgestellten Unterrichtsprojekt steht daher nicht die Bedeutung der Kirche an sich im Mittelpunkt, sondern die „lebensweltliche Applikationsfähigkeit“[12] und Urteilskompetenz der Schülerinnen. Wenn sie auf die Suche nach dem Zweck von Kirche gehen, setzen sie sich mit der von Kirche beanspruchten Relevanz christlichen Glaubens und kirchlicher Vollzüge für das Leben der Menschen kritisch auseinander und gelangen zu einem begründeten Urteil, wie anschlussfähig Kirche für das Leben der Menschen ist. Was leistet sie Positives für unsere Gesellschaft und wo und warum verfehlt sie ihren Zweck? Ein solches Urteil ist allen Schülerinnen unabhängig von ihrer Nähe oder Ferne zur Kirche und unabhängig von ihrer Kirchenmitgliedschaft oder Konfessionszugehörigkeit möglich. Schülerinnen anderer Religionen, die am katholischen Religionsunterricht teilnehmen, können an einem solchen Unterrichtsprojekt ebenfalls teilnehmen und auf die Suche nach dem Zweck ihrer eigenen Religionsgemeinschaft gehen.
Die Grundfunktionen von Kirche sind schnell erarbeitet: Liturgie, Verkündigung, Diakonie, Gemeinschaft, Gottes Gegenwart bezeugen und erfahrbar machen. Ihre kritische Überprüfung ist vielschichtiger. Soll es nicht bei persönlichen Befindlichkeiten der Schülerinnen über Kirche, bloßen Internetrecherchen oder langwieriger und eintöniger Textarbeit bleiben, bietet sich für die Überprüfung das Aufsuchen religiöser Lernorte an. Anders als beim ersten Unterrichtsbeispiel auch gerade das Aufsuchen „klassischer“ Lernorte mit einem offensichtlichen und direkten Bezug zu Religion und Religiosität. Hier können die Schüler konkrete gelungene Beispiele kirchlichen Lebens finden und sie realistisch wahrnehmen. Vor Ort können sie die Zielsetzungen kirchlicher Projekte kennenlernen, mit anderen Menschen in einen Dialog darüber treten, was sie antreibt und mit welcher Haltung sie sich engagieren, und so ein Gespür dafür entwickeln, was religiös motivierte Lebensgestaltung ausmacht. Vor Ort merken Schülerinnen auch sehr schnell, wenn kirchliche Angebote wenig ansprechend sind, ins Leere laufen und sich vielleicht verändern müssten, damit sie ihren Zweck erfüllen. Angesichts der Tatsache, dass Schülerinnen immer weniger eigene Erfahrungen mit kirchlichem Leben machen und oftmals keine Vorstellung haben, an welchen Orten sich christliches Leben vollzieht, ist es notwendig, vor dem Aufsuchen religiöser Lernorte eine intensive Recherche zu betreiben, um die bunte Vielfalt infrage kommender Orte wahrzunehmen. So kommen die Jugendlichen auf neue Ideen und können für ihr Projekt einen religiösen Lernort auswählen, den sie noch nicht kennen und interessant finden. Womöglich brauchen die Schülerinnen auch Unterstützung dabei, Kontakte herzustellen.
Besonders gute Erfahrungen habe ich mit Klöstern als „Anders-Orten“ christlichen Lebens und christlicher Spiritualität gemacht. Sei es mit eher kontemplativen Klöstern, die sich dem Gotteslob und dem stellvertretenden Gebet verpflichtet wissen, sei es mit Klöstern, die sich mit unterschiedlichsten pastoralen und sozial-caritativen Angeboten unmittelbar an Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen richten. In Klöstern begegnen Schülerinnen Menschen, die einer Berufung folgen und sich bewusst für ein anderes Leben an einem für Schüler eher fremden Ort entschieden haben. Dabei aber alles andere als weltfremd sind und beeindruckende Gesprächspartnerinnen für authentisches christliches Leben sein können. Wird in einer solchen Lebensform etwas davon sichtbar, was kirchliches Leben ausmachen soll? Lohnenswert ist auch der Besuch von Jugendkirchen, zu deren Zielgruppe die Schülerinnen im Religionskurs gehören. Wenn sie die Angebote vor Ort kennenlernen und erleben können, haben sie ein gutes Gespür dafür, ob sie ihren Zweck erfüllen und Jugendliche wirklich erreichen können.
Methodisch ist das Projekt unterschiedlich durchführbar. Die Schüler können sich allein oder in Gruppen für einen religiösen Lernort entscheiden, ihn kennenlernen, beurteilen und ihr Ergebnis in der Klasse präsentieren. Oder die ganze Klasse unternimmt gemeinsam Exkursionen zu ausgewählten Orten. Möglich ist natürlich auch, die religiösen Lernorte in die Schule zu holen, indem man Vertreterinnen von Einrichtungen oder Projekten in den Unterricht einlädt.
Das Projekt macht deutlich, dass es letztlich nicht um die religiösen Orte an sich geht, sondern um die Menschen, die aus dem Geist Jesu Christi oder ihrer religiösen Motivation heraus Orte zu religiösen Orten machen und mit ihrer Haltung für etwas einstehen. Die Begegnung mit ihnen leistet mehr als jeder Text, jeder Film oder jedes noch so gute schulische Lehr-Lern-Arrangement. Auch wenn nicht bei jeder Begegnung eine Funke überspringt, auch wenn in den Augen der Schülerinnen nicht jeder Ort überzeugend den Zweck von Kirche erfüllt, „macht“ die Auseinandersetzung mit authentischen Persönlichkeiten vor Ort etwas mit den Schülern, das habe ich oft erlebt. Sie beeindrucken, und zwar nachhaltig. Sie vermitteln eine Menge an Inhalt über das, was Kirche ist und ausmacht, so dass die klassischen ekklesiologischen Inhalte nicht zu kurz kommen, aber durch die lebendige und kommunikative Vermittlung vor die Chance haben, von den Schülerinnen aufgenommen und rezipiert zu werden. Die Begegnungen vor Ort eröffnen auch neue Sichtweisen auf Kirche, die Schülerinnen oftmals nicht erwartet hätten. Und sie ermöglichen positive Erfahrungen mit Kirche und gelebtem Glauben, die beim letzten Kontakt von Schülern mit religiösen Fragen für längere Zeit – und der Religionsunterricht am Berufskolleg ist in der Regel dieser letzte Kontakt – alles andere als unerheblich sind. So haben religiöse Lernorte das Potential, Schülerinnen in Kontakt mit einem besonderen religiösen Ort zu bringen, dem Himmel, den der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen offen hält.[13]
Wikipedia: Liste der Klöster und Stifte in NRW >>>
Karte: Jugendkirchen im Bistum Essen finden >>>
Zum Autor:
Dr. Christian Uhrig unterrichtet am Berufskolleg Essen West, ist Bezirksbeauftragter für den Katholischen Religionsunterricht an beruflichen Schulen im Bezirk Essen und Dozent für Spiritualitätsgeschichte des Altertums an der PTH Münster. In seiner Freizeit liebt er es, inspirierende Orte aufzuspüren und Länder rund um das Mittelmeer zu bereisen. Er kocht gerne und spielt mit Familie und Freund:innen Brettspiele.