Auf die Suche gehen

Außerschulische Lernorte im Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen

Von Christian Uhrig

Die Frage, was ein religiöser Ort ist, beantworten Schülerinnen und Schüler[1] meist mit dem Verweis auf Kirchen, Moscheen, Synagogen, Tempel etc. – auf „Gotteshäuser“ also. Was im Blick auf Tempel zutreffen mag, ist mit Blick auf das Christentum unpassend. Zumindest dann, wenn man an die frühen Christen zurückdenkt. Für sie waren die „Häuser“ ihres Gottes keine Gebäude aus Stein wie für Römer, die in ihre Tempel Bilder der Gottheiten stellten, die darin „wohnten“ und dort kultisch verehrt wurden. „Gottes Tempel“ – das waren für die frühen Christen vielmehr die Gläubigen selbst, in denen der Geist Gottes wohnt und die er somit heilig macht;[2] „denn Gott hat gesprochen: ‚Ich will unter ihnen wohnen und mit ihnen gehen. Ich werde ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.‘ [3] „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“[4] „Heilige Orte“ außerhalb der Menschen brauchten die frühen Christen nicht. Sie waren dem Christentum wesensfremd. Mit der konstantinischen Ära setzt dann ein reger Kirchenbau ein, und damit hält nach und nach auch der Gedanke von „Gotteshäusern“ und „Heiligen Orten“ Einzug ins Christentum. Bis hinein in die Köpfe von Schülerinnen, die bei religiösen Orten an Kirchen denken, und von Religionspädagoginnen und -didaktikern, für die „nach wie vor der Kirchenraum der prominenteste Lernort außerhalb der Schule“ ist.[5]

Das konstantinische Paradigma hat das Christentum über Jahrhunderte geprägt, inzwischen ist es allerdings mehr als vorbei. Auch in der religionspädagogischen Betrachtung hat sich der Blick auf religiöse Lernorte verändert: Neben „Gotteshäusern“ und anderen Orten mit einem „offensichtlichen und direkten Bezug zu Religion und Religiosität“ wie Klöstern, Friedhöfen oder Denkmälern finden zunehmend auch Lernorte mit einem „indirekten oder impliziten Bezug zu Religion“ Berücksichtigung, bei denen ein „weites Verständnis von Religion zu Grunde“ liegt. Diese Orte stehen „für elementare Lebenserfahrungen“ und orientieren sich stärker an der „Lebenswelt der Schüler/innen“.[6] Angesichts der Tatsache, dass 61% der Deutschen Religion überhaupt nicht oder wenig wichtig finden und ebenso viele junge Erwachsene ab 18 Jahren Religion nur noch für ihre Elterngeneration für bedeutsam halten, nicht aber mehr für die eigene,[7] ist dieser weite Blick auf religiöse Lernorte notwendig. Religion und Religiosität, rückgebunden an eine bestimmte Religionsgemeinschaft und eindeutig geprägt von ihrer rituellen Praxis, verlieren zugunsten eines weiteren Begriffs von Spiritualität immer mehr an Bedeutung. Spiritualität setzt stärker auf ein Beziehungsgeschehen, auf den Wert eigener Erfahrung, eigenen Erlebens und die Bedeutsamkeit eines eigenen geistlichen Weges als auf vorgegebene Frömmigkeitsformen und immer gleiche Rituale, die mit Religion und Religiosität in Verbindung gebracht werden. Diese Veränderung zeigt sich im Blick auf die jungen Erwachsenen darin, dass sie Religion neben sozial-caritativer Arbeit mit einer spirituellen Dimension von Seelsorge, Orientierung und Halt in der Welt in Verbindung bringen.[8]

Was bedeuten diese Veränderungen für den Religionsunterricht an beruflichen Schulen und das Lernen an außerschulischen religiösen Lernorten? Dieser Frage möchte ich im Folgenden anhand zweier Beispiele aus meiner Unterrichtspraxis an einem Beruflichen Gymnasium nachgehen.

Auf die Suche nach religiösen Orten gehen

Ausgehend vom frühchristlichen Verständnis religiöser Orte ist der gläubige Mensch Tempel Gottes, Tempel des Heiligen Geistes, wie es Paulus formuliert, und steht somit in einer spirituellen Beziehung zu Gott und seinem Geist. Selbst wenn alle Schülerinnen im katholischen Religionsunterricht katholischen Bekenntnisses wären, würden sie die Bedeutung der paulinischen Aussage unterschiedlich verstehen und ihre spirituelle Beziehung zu Gott sehr individuell und unterschiedlich intensiv gestalten und leben. Glaube an Gott, Nähe zu Gott sind etwas sehr Persönliches – von der Bindung an Kirche als Gemeinschaft der an Gott Glaubenden einmal ganz abgesehen. Die Realität des katholischen Religionsunterrichts im Beruflichen Gymnasium ist aber weit komplexer. Denn die katholischen Schüler sind in ihrem religiösen Selbstverständnis nicht nur heterogen, sondern zahlenmäßig immer weniger zu finden. Sie treffen im Religionsunterricht auf Schülerinnen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen und lernen gemeinsam mit postchristlichen, religionsindifferenten und atheistischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zusammen an religiösen Themen. Diese heterogene Schülerschaft macht schnell deutlich, dass die Lernorte mit einem direkten Bezug zu Religion und Religiosität schnell an ihre Grenzen kommen: Welche religiösen Orte sollen denn aufgesucht werden? Christliche? Nur christliche? „Warum nicht auch meinen Tempel in Hamm?“, wird der Hindu vielleicht fragen. Also dann christliche Orte zahlenmäßig gleichberechtigt mit Orten aller in der Klasse vertretenen Religionen und einem Besuch bei der Humanistischen Union, um auch einen atheistischen „Ort“ zu berücksichtigen? Wie viele Exkursionen will man dann organisieren, wie viele Tage unterwegs sein? Im Bildungsgang könnte das zu Schwierigkeiten mit den Vertreterinnen anderer Fächer führen, wenn die Klasse immer weg ist. Und abgesehen davon: Was soll das Ziel einer solchen Tour sein? Religionskunde, um andere Religionen kennenzulernen? Ist man dann nicht schnell im Fahrwasser eines Ethikunterrichts, der auch Wissen über Religionen und Weltanschauungen vermittelt? Oder geht es darum, Religion erlebbar zu machen, gar Lust an und auf Religion zu machen? Bei 61%, die Religion sowieso für bedeutungslos halten, ein schwieriges Unterfangen. Die 32%, die Religion für wichtig oder gar sehr wichtig halten, haben ihren Zugang dazu wahrscheinlich schon gefunden und brauchen keine anderen Inspirationen.

Mein Zugang ist daher ein anderer. Zurück zu Paulus: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ Paulus hat diese Frage natürlich nicht meiner religiös heterogenen Klasse gestellt, sondern der christlichen Gemeinde in Korinth. Und doch scheint mir die Frage auch für meine Schülerinnen bedeutsam. Nicht um einem anonymen Christentum das Wort zu reden oder den nichtchristlichen Schülern den Heiligen Geist aufzupfropfen. Sondern vielmehr mit der interessierten Frage: Welcher Geist wohnt in Euch? Welche Haltung habt Ihr in religiösen Fragen? Wie versteht Ihr eigentlich Religion? Und was bedeutet Euch Religion eigentlich persönlich? Worauf setzt Ihr, worauf vertraut Ihr? Was gibt Euch Sinn? Mir ist wichtig, zu Beginn des Religionsunterrichtes mit einer neuen Klasse 11 Raum für unterschiedliche Einstellungen, Haltungen und Erfahrungen zu geben. Den Schülern ein Gefühl dafür zu vermitteln, dass sie mit ihren eigenen Fragen, Zweifeln und Sicherheiten gut aufgehoben sind und dass sie sich mit ihrer religiösen Einstellung wertgeschätzt und ernst genommen fühlen.

Methodisch können die Schülerinnen die Frage nach ihrem persönlichen Religionsverständnis natürlich allein mit Worten beantworten. Zunächst frei über Religion assoziieren und eine MindMap anfertigen, von da aus zu einer verschriftlichen Definition von Religion gelangen, die sie präsentieren und über die die Klasse diskutieren kann. Schüleraktivierender und motivierender ist aber die Arbeit mit und an religiösen Orten. Nicht mit Orten, die ich mir als Lehrer überlege. Welche(n) Ort(e) ich auch immer auswählte – sie spiegeln immer mein Verständnis eines für die Schüler passenden oder sie inspirierenden religiösen Ortes wider. So viele Gedanken ich mir im Vorfeld auch immer über meine Schülerinnen, deren Lebenswelt und -realität mache. Zielführender ist es für mich daher, die Schülerinnen selbst auf die Suche nach einem religiösen oder spirituellen Ort gehen zu lassen, der für sie ganz persönlich ihr Religionsverständnis und ihre Haltung symbolisiert und zum Ausdruck bringt. Rückmeldungen der Schüler zeigen, dass die Suche danach (am Anfang) durchaus herausfordernd ist, im Endeffekt aber als äußerst spannend erlebt wird.

Was bei einem Schüler, der sich in einer Religionsgemeinschaft bewegt, eine Kirche sein kann, ein Ort also mit einem direkten und offensichtlichen Bezug zu einer konkreten Religionsgemeinschaft, kann bei einer Schülerin mit einer religionskritischen Einstellung z.B. die Universität sein, da sie Religion von wissenschaftlichen Erkenntnissen abgelöst sieht und auf wissenschaftliche Erkenntnisse setzt und vertraut, die ihr passende Zugänge zum Wirklichkeitsverständnis eröffnen. Wer für sich Religion als eine andere Wirklichkeit offenhalten möchte, für die Frage nach einem Sinn im Leben oder eine spirituelle Dimension offen ist, für den kann das eigene Zimmer oder ein Ort in der Natur ein spiritueller Ort sein, an dem er ganz bei sich sein, zu sich kommen kann oder auf die Suche nach dem „Mehr“ im Leben gehen kann. Bei meiner letzten 11. Klasse hat sich z.B. ein Schüler in den Deilbach gelegt, darin liegend fotografieren lassen und damit zum Ausdruck gebracht, dass Religion für ihn bedeutet, von etwas getragen zu sein, aber auch gegen den Strom, gegen gesellschaftliche Überzeugungen schwimmen zu müssen.

Die Suche nach einem religiösen Ort fördert nicht nur die religiöse Sachkompetenz der Schülerinnen, indem sie ihren Ort wahrnehmen und beschreiben sowie ihre Haltung in Sachen Religion zum Ausdruck bringen, sondern auch weitere Kompetenzbereiche.[9] Zusätzlich zur Suche nach einem Ort haben die Schülerinnen die Aufgabe, einen Gesprächspartner zu finden, der zu diesem Ort passt und mit dem sie über das an und mit ihrem Ort zum Ausdruck kommende Verständnis von Religion ins Gespräch kommen. Der Diskurs ermöglicht den Schülern eine Erweiterung ihrer Perspektive, indem sie sich mit einer möglicherweise inhaltlich anderen Sichtweise auf Religion und den von ihnen gewählten religiösen Ort auseinandersetzen. Auf jeden Fall fördern die Schülerinnen, indem sie religiös kommunizieren, ihre religiöse Urteils- und Handlungskompetenz und sind herausgefordert, sich sprachlich angemessen über religiöse Sachverhalte auszudrücken.

Die Nutzung der mehrfach ausgezeichneten App „Actionbound“ lässt nicht nur die Präsentation der Ergebnisse abwechslungsreicher werden als bei einer „klassischen“ Präsentation z.B. mit einem Powerpoint-Vortrag, sondern macht die Suche nach religiösen Orten zu einem handlungsorientierten Projekt. Actionbound ermöglicht es, die einzelnen Orte der Schülerinnen miteinander zu einem interaktiven Guide zusammenzufügen, der bei der Nutzung der App zu ihren Orten führt. Dieser Bound kann auf der Plattform veröffentlicht werden und steht so allen Nutzern der App zur Verfügung. Damit erfolgt die Auseinandersetzung mit religiösen Orten nicht nur für ein schulisches Projekt, das anschließend benotet und in der Versenkung verschwindet. Sondern die Schülerinnen erarbeiten ein Handlungsprodukt, das über die Schule hinaus nachhaltig auch andere Nutzerinnen zu einer Auseinandersetzung mit religiösen Orten und Religion anregen kann.[10] Die Arbeit an einem solchen Bound ist einfach: Die Schülerinnen gestalten jeweils ihren persönlichen Bound, indem sie die Koordinaten ihres religiösen Ortes angeben und Fotos von ihrem Ort sowie eine Audio- bzw. Videodatei mit ihrem Gespräch hochladen. Zusätzlich können sie z.B. Aufgaben zu ihrem religiösen Ort, Quizaufgaben oder andere Features, die die Plattform bietet, einbinden, um ihren Bound individuell und abwechslungsreich zu gestalten. Die Lehrkraft kann die Einzelbounds anschließend zu einem gemeinsamen Bound zusammenfügen und so den interaktiven Guide zu den einzelnen religiösen Orten auf der Plattform veröffentlichen. Je nachdem, wo die einzelnen Orte der Schülerinnen liegen und wie weit sie voneinander entfernt sind, kann der Bound statt einer Präsentation an einem Exkursionstag als Gruppen- oder Einzelbound aufgesucht und vor Ort „gespielt“ werden. Die Schüler suchen dann die einzelnen Orte, hören oder sehen sich die Gespräche an und spielen die Aufgaben, für die sie Punkte erhalten können, so dass auch ein Turnier möglich ist. So tritt neben die inhaltliche Auseinandersetzung auch ein Erlebnis- und Spaßfaktor, der zusätzlich motiviert. Oder die Schülerinnen werden gebeten Kopfhörer mitzubringen und „spielen“ den Bound dann im Klassenraum. Die Arbeit mit der App und am gesamten Projekt wird von meinen Schülern gemeinhin sehr positiv bewertet.

Direkt zu Actionbound >>>

 

Auf die Suche nach dem Zweck von Kirche gehen

Das Thema Kirche ist noch weiter von der Lebenswelt der Schüler entfernt ist als das Thema Religion. Ganz vereinzelt treffe ich noch auf Messdienerinnen oder Jugendliche, die sich kirchlich engagieren, aber die weitaus meisten christlich sozialisierten Schülerinnen haben mit Firmung oder Konfirmation ihr Abschiedsfest von der Kirche gefeiert und keinerlei Berührungspunkte mehr mit kirchlichem Leben. Daneben stellt die beschriebene religiös heterogene Schülerschaft gerade für die Beschäftigung mit ekklesiologischen Fragstellungen in der Jahrgangsstufe 13 eine besondere Herausforderung dar. Außerschulische religiöse Lernorte bieten auch hier Chancen, diesen Herausforderungen produktiv zu begegnen.

Mein Ansatzpunkt liegt in der Beobachtung, dass Schülerinnen die Kirche nicht abschaffen wollen, obwohl sie für ihr eigenes Leben nahezu bedeutungslos geworden ist. „Es ist gut und wichtig, dass Kirche sich um Menschen kümmert, die es schwer haben, damit sie einen Halt in ihrem Leben haben“, so höre ich oft. Grundsätzlich halten junge Erwachsene auch Angebote für wichtig, die dem Sinn des Lebens nachgehen oder beim Finden des eigenen Wegs im Leben und der Frage nach der Bedeutsamkeit des Daseins helfen. Vor diesem Hintergrund kann die Frage nach dem Sinn oder nach dem Zweck von Kirche sinnvolle Lernprozesse eröffnen: Was soll Kirche eigentlich leisten, was ist ihr Auftrag? Das mag ungewöhnlich sein und dem, was dogmatischen Überlegungen und lehramtlichen Überzeugungen zufolge Kirche oder ihr Wesen ausmacht, nur wenig gerecht werden. Nimmt man aber das Wirken Jesu ernst, der sich Menschen am Rand zugewandt und ihnen gedient hat, ist die Frage danach, was Kirche für die Menschen leistet, mehr als angebracht. Auch Papst Franziskus fordert in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium eine „Kirche im Aufbruch“: „Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. Ich will keine Kirche, die darum besorgt ist, der Mittelpunkt zu sein, und schließlich in einer Anhäufung von fixen Ideen und Streitigkeiten verstrickt ist.“[11]

Bei dem hier vorgestellten Unterrichtsprojekt steht daher nicht die Bedeutung der Kirche an sich im Mittelpunkt, sondern die „lebensweltliche Applikationsfähigkeit“[12] und Urteilskompetenz der Schülerinnen. Wenn sie auf die Suche nach dem Zweck von Kirche gehen, setzen sie sich mit der von Kirche beanspruchten Relevanz christlichen Glaubens und kirchlicher Vollzüge für das Leben der Menschen kritisch auseinander und gelangen zu einem begründeten Urteil, wie anschlussfähig Kirche für das Leben der Menschen ist. Was leistet sie Positives für unsere Gesellschaft und wo und warum verfehlt sie ihren Zweck? Ein solches Urteil ist allen Schülerinnen unabhängig von ihrer Nähe oder Ferne zur Kirche und unabhängig von ihrer Kirchenmitgliedschaft oder Konfessionszugehörigkeit möglich. Schülerinnen anderer Religionen, die am katholischen Religionsunterricht teilnehmen, können an einem solchen Unterrichtsprojekt ebenfalls teilnehmen und auf die Suche nach dem Zweck ihrer eigenen Religionsgemeinschaft gehen.

Die Grundfunktionen von Kirche sind schnell erarbeitet: Liturgie, Verkündigung, Diakonie, Gemeinschaft, Gottes Gegenwart bezeugen und erfahrbar machen. Ihre kritische Überprüfung ist vielschichtiger. Soll es nicht bei persönlichen Befindlichkeiten der Schülerinnen über Kirche, bloßen Internetrecherchen oder langwieriger und eintöniger Textarbeit bleiben, bietet sich für die Überprüfung das Aufsuchen religiöser Lernorte an. Anders als beim ersten Unterrichtsbeispiel auch gerade das Aufsuchen „klassischer“ Lernorte mit einem offensichtlichen und direkten Bezug zu Religion und Religiosität. Hier können die Schüler konkrete gelungene Beispiele kirchlichen Lebens finden und sie realistisch wahrnehmen. Vor Ort können sie die Zielsetzungen kirchlicher Projekte kennenlernen, mit anderen Menschen in einen Dialog darüber treten, was sie antreibt und mit welcher Haltung sie sich engagieren, und so ein Gespür dafür entwickeln, was religiös motivierte Lebensgestaltung ausmacht. Vor Ort merken Schülerinnen auch sehr schnell, wenn kirchliche Angebote wenig ansprechend sind, ins Leere laufen und sich vielleicht verändern müssten, damit sie ihren Zweck erfüllen. Angesichts der Tatsache, dass Schülerinnen immer weniger eigene Erfahrungen mit kirchlichem Leben machen und oftmals keine Vorstellung haben, an welchen Orten sich christliches Leben vollzieht, ist es notwendig, vor dem Aufsuchen religiöser Lernorte eine intensive Recherche zu betreiben, um die bunte Vielfalt infrage kommender Orte wahrzunehmen. So kommen die Jugendlichen auf neue Ideen und können für ihr Projekt einen religiösen Lernort auswählen, den sie noch nicht kennen und interessant finden. Womöglich brauchen die Schülerinnen auch Unterstützung dabei, Kontakte herzustellen.

Besonders gute Erfahrungen habe ich mit Klöstern als „Anders-Orten“ christlichen Lebens und christlicher Spiritualität gemacht. Sei es mit eher kontemplativen Klöstern, die sich dem Gotteslob und dem stellvertretenden Gebet verpflichtet wissen, sei es mit Klöstern, die sich mit unterschiedlichsten pastoralen und sozial-caritativen Angeboten unmittelbar an Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen richten. In Klöstern begegnen Schülerinnen Menschen, die einer Berufung folgen und sich bewusst für ein anderes Leben an einem für Schüler eher fremden Ort entschieden haben. Dabei aber alles andere als weltfremd sind und beeindruckende Gesprächspartnerinnen für authentisches christliches Leben sein können. Wird in einer solchen Lebensform etwas davon sichtbar, was kirchliches Leben ausmachen soll? Lohnenswert ist auch der Besuch von Jugendkirchen, zu deren Zielgruppe die Schülerinnen im Religionskurs gehören. Wenn sie die Angebote vor Ort kennenlernen und erleben können, haben sie ein gutes Gespür dafür, ob sie ihren Zweck erfüllen und Jugendliche wirklich erreichen können.

Methodisch ist das Projekt unterschiedlich durchführbar. Die Schüler können sich allein oder in Gruppen für einen religiösen Lernort entscheiden, ihn kennenlernen, beurteilen und ihr Ergebnis in der Klasse präsentieren. Oder die ganze Klasse unternimmt gemeinsam Exkursionen zu ausgewählten Orten. Möglich ist natürlich auch, die religiösen Lernorte in die Schule zu holen, indem man Vertreterinnen von Einrichtungen oder Projekten in den Unterricht einlädt.

Das Projekt macht deutlich, dass es letztlich nicht um die religiösen Orte an sich geht, sondern um die Menschen, die aus dem Geist Jesu Christi oder ihrer religiösen Motivation heraus Orte zu religiösen Orten machen und mit ihrer Haltung für etwas einstehen. Die Begegnung mit ihnen leistet mehr als jeder Text, jeder Film oder jedes noch so gute schulische Lehr-Lern-Arrangement. Auch wenn nicht bei jeder Begegnung eine Funke überspringt, auch wenn in den Augen der Schülerinnen nicht jeder Ort überzeugend den Zweck von Kirche erfüllt, „macht“ die Auseinandersetzung mit authentischen Persönlichkeiten vor Ort etwas mit den Schülern, das habe ich oft erlebt. Sie beeindrucken, und zwar nachhaltig. Sie vermitteln eine Menge an Inhalt über das, was Kirche ist und ausmacht, so dass die klassischen ekklesiologischen Inhalte nicht zu kurz kommen, aber durch die lebendige und kommunikative Vermittlung vor die Chance haben, von den Schülerinnen aufgenommen und rezipiert zu werden. Die Begegnungen vor Ort eröffnen auch neue Sichtweisen auf Kirche, die Schülerinnen oftmals nicht erwartet hätten. Und sie ermöglichen positive Erfahrungen mit Kirche und gelebtem Glauben, die beim letzten Kontakt von Schülern mit religiösen Fragen für längere Zeit – und der Religionsunterricht am Berufskolleg ist in der Regel dieser letzte Kontakt – alles andere als unerheblich sind. So haben religiöse Lernorte das Potential, Schülerinnen in Kontakt mit einem besonderen religiösen Ort zu bringen, dem Himmel, den der Religionsunterricht an berufsbildenden Schulen offen hält.[13]

 

Wikipedia: Liste der Klöster und Stifte in NRW >>>

Karte: Jugendkirchen im Bistum Essen finden >>>

Zum Autor:

Dr. Christian Uhrig unterrichtet am Berufskolleg Essen West, ist Bezirksbeauftragter für den Katholischen Religionsunterricht an beruflichen Schulen im Bezirk Essen und Dozent für Spiritualitätsgeschichte des Altertums an der PTH Münster. In seiner Freizeit liebt er es, inspirierende Orte aufzuspüren und Länder rund um das Mittelmeer zu bereisen. Er kocht gerne und spielt mit Familie und Freund:innen Brettspiele.

Fußnoten

[1] Ich verwende im weiteren Text in zufälliger Folge die männliche und weibliche Form. Im Sinne der gendersensiblen Sprache mögen sich bitte alle mitgemeint fühlen.

[2] Vgl. 1 Kor 3,16f.

[3] 2Kor 6,16f. mit Verweis auf Lev 26,11f.

[4] Mt 18,20.

[5] Andrea Schulte, Außerschulische Lernorte, Berlin 2019 (Scriptor Praxis), 102.

[6] Andrea Schulte, Jeder Ort – überall! Didaktik außerschulischer religiöser Lernorte, Stuttgart 2013, 15.

[7] So das Ergebnis der Studie „Glaube – Nachhaltigkeit – Gerechtigkeit“ der Stiftung Friedensdialog, die vom Meinungsforschungsinstitut YouGov durchgeführt und im September 2021 veröffentlicht wurde. Link zur Studie auf https://de.ringforpeace.org/projekte/generationsindialogue/info/yougovstudie/ (Abruf: 30.10.2021)

[8] So ein weiteres Ergebnis der in FN 7 genannten Studie.

[9] Die Aussagen zur religiösen Kompetenz beziehen sich auf das von Ulrich Hemel, Ziele religiöser Erziehung. Beiträge zu einer integrativen Theorie, Frankfurt am Main u.a. 1988, entwickelte Modell religiöser Kompetenz sowie auf die Aussagen zu den Kompetenzbereichen religiöser Bildung in den Bildungsplänen. Vgl. dazu z.B. Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen, Katholische Religionslehre, hrsg. vom Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 2014, 17f.

[10] Bei einer Veröffentlichung ist natürlich auf Bildrechte und das Einverständnis der Schülerinnen sowie ihrer Erziehungsberechtigten zur Veröffentlichung zu achten. Soll von einer Veröffentlichung abgesehen werden, kann der Bound auch geheim eingestellt und mithilfe eines QR-Codes oder Links nur Berechtigten zugänglich gemacht werden.

[11] Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, Bonn 2013 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls. 194), 20; 49.

[12] Rudolf Englert, Bildungsstandards für Religion. Was eigentlich wissen sollte, er solche formulieren wollte, in: Claus Peter Sajak (Hg.), Bildungsstandards für den Religionsunterricht – und nun? Berlin 2007, 20.

[13] So lautet das Leitwort des Verbandes Katholischer Religionslehrerinnen und Religionslehrer an berufsbildenden Schulen e.V. (vkr).