Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht

von Andrea Schulte

1. Religionsunterricht – außerschulisch? JA. BITTE. SEHR.

Aller Voraussicht nach wird in diesem Frühjahr 2022 in der Schule und im Religionsunterricht wieder Einiges möglich sein: Präsenzunterricht im Klassenraum, fächerverbindender und fächerübergreifender Unterricht, kooperatives Lernen, lebhafte Unterrichtsgespräche über „Gott und die Welt“ sowie interessante Arbeitsgemeinschaften. Auch der lange verstummte Ausruf „Raus aus der Schule und Unterricht mal wieder ganz anders erleben!“ wird wieder vernehmbar sein. In Organisationsformen wie Unterrichtsgängen, Exkursionen, Wandertagen und Klassen- oder Studienfahrten wird der Besuch außerschulischer Lernorte realisiert werden können.

Worin unterscheidet sich eine Kirche von einem Rathaus? Warum spricht die Sachkundelehrerin bei einem Waldspaziergang von Umweltschutz, der Religionslehrer aber von Bewahrung der Schöpfung? Was erzählen Gräber und Grabsteine über Trauer und Tod? Wieso werden Einkaufszentren als Konsumtempel unserer Zeit bezeichnet? Was sind diakonische und karitative Einrichtungen? Worin besteht der Tagesablauf eines Pfarrers? Warum hat der Apostel Paulus die christliche Auferstehungsbotschaft auf dem Marktplatz verkündet? Woran erkennt man eine Synagoge? Was gibt eine Moschee über den Islam zu lernen auf? Antworten auf diese Fragen und vieles mehr können Schüler*innen durch Erkundungen an Orten außerhalb der Schule finden.

Der Besuch außerschulischer Lernorte (ASL) hat längst Einzug gehalten in den Unterricht aller Schulstufen und Schulformen. Auch im Religionsunterricht befindet sich das außerschulische Lernen im Aufwind. Was seine Attraktivität ausmacht? Nun: „Religion lernen“ ist nicht auf den Verbleib in der Schule und im Klassenraum angewiesen. Außerhalb der Schule, in der Alltags- und Lebenswelt sind die Schüler*innen den Phänomenen, Ausdrucks- und Artikulationsformen sowie Präsentationen von Religion am nächsten. Sie besuchen Orte, Gebäude und Einrichtungen, die sich ganz anders zeigen als im Bildmaterial des Religionsbuchs. Sie begegnen Menschen an ihren Wirkungsorten oder in ihrem Lebensumfeld.  Sie können (religiöse) Praktiken erproben, die in den Grenzen der Schule nicht möglich sind, z.B. einen Gospelsong in einer Kirche zum Klingen bringen. Kurzum: Die Schüler*innen lernen Orte und Räume kennen, an denen sich Religion bzw. religiöses Leben aufschließen lässt. Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht beansprucht, ganz nah an der Alltags- und Lebenswelt der Lernenden zu sein.

2. Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht – aus guten Gründen!

Grundsätzlich können sich Religionslehrer*innen bei der Planung und Durchführung außerschulischen Lernens an den allgemeinen Prinzipien einer Didaktik außerschulischer Lernorte orientieren. (vgl. Schulte 2019) Deren „Grunddaten“ sind in dem folgenden Zitat trefflich zusammengefasst:

„Außerschulische Lernorte sollen als eine Möglichkeit angesehen werden, die Fremdheit, die Anschaulichkeit, die sinnliche Erfahrbarkeit sowie das Vergangene und nicht mehr Präsente als eine Chance des Lernens zu begreifen, die ansonsten das Lernen in der Schule kaum bieten kann. Außerschulische Lernorte sind prädestiniert für das selbstständige Erkunden und Erforschen, bedürfen hierbei einer sorgfältigen Vorbereitung und Nachbereitung, um das Potenzial des Lernorts auch tiefergehend auszuschöpfen. … Beim außerschulischen Lernen geht es nicht um eine kopflose Erkundungsaktivität, sondern um ein systematisches und kritisch angelegtes Explorieren des sinnlich Erfahrbaren, meist fremder Informationswelten sowie um Interaktionen mit Menschen, die nur selten oder nie in der Schule zur Verfügung stehen“ (Karpa u.a. 2015, 23)

Darüber hinaus ist das außerschulische Lernen im Religionsunterricht auch religionsphänomenologisch und religionsdidaktisch gut zu begründen. Die Religions- und Christentumsgeschichte verweist durchgängig auf zahlreiche Orte und Räume, an denen Menschen Gotteserfahrungen und Gottesbegegnungen sowie religiöse und spirituelle Erfahrungen gemacht haben. Die Vielfalt an Orten und Räumen reicht von (heiligen) Bergen, Flüssen und Meeren, Gärten, Straßen und Wege bis zu Kirchen und Klöstern sowie Ruhestätten. Mit dem außerschulischen Lernen vergegenwärtigt der Religionsunterricht die wichtige theologisch-anthropologische Einsicht, dass „der Geist Gottes weht, wo er will“, Menschen bewegt und in Bewegung setzt, und so Wege religiösen Lernens und didaktischer Erschließung des Nachdenkens und Redens über „Gott und die Welt“ eröffnet.

Erkundungen an Orten der Natur (Wald, Feld, Wiese, Park, Garten) laden zum Theologisieren über schöpfungstheologische und –ethische Fragen am und auf dem Wege ein. Der Marktplatz als Repräsentant öffentlicher Räume wirft die anthropologische Frage nach dem Menschen als zoon politikon auf. Museen und Bibliotheken, die Dinge (Artefakte) bis ins Unendliche ansammeln, sind Orte der Zeit, an denen Ewigkeit ein Gesicht bekommt. Erinnerungs- und Gedenkorte provozieren die Spannung von unmittelbarer Erfahrung der Vergangenheit und bleibender Ferne und Fremdheit, von Nähe und Distanz. ASL wie Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, in denen Schüler*innen der 9. und 10. Jahrgangsstufen beispielsweise ihre sozialen und diakonischen Praktika absolvieren, fördern Empathiefähigkeit und eröffnen Resonanzräume für ethische und gesellschaftspolitische Fragen.

Es zeigt sich: Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht befördert religiöses Lernen, ermöglicht das Wahrnehmen, Erleben und Erkunden von Orten und Räumen. Bestenfalls sind die großen Themen der Lehr- und Bildungspläne (Wirklichkeit, Bibel, Gott, Jesus Christus, Mensch, Kirche, Religion(en)) „zum Greifen nahe“. Kinder und Jugendliche, die am Religionsunterricht teilnehmen, bringen unterschiedliche Voraussetzungen für das Verstehen, Deuten, Ausdrücken und Gestalten der christlichen Religion mit. Die authentische Begegnung mit religiös bedeutsamen Orten, Menschen, Ereignissen, öffentlicher und nicht öffentlicher Präsentation von Religion gibt den subjektiven Zugängen und Ausdrucksmöglichkeiten der Schüler*innen Raum und ermöglicht ihnen säkulare und religiöse Deutungen in alltäglicher und religiöser Sprache. Diese Herangehensweise fördert religiöse Sprach- und Ausdrucksfähigkeit sowie eine Kommunikation, die zu einem reflektierten Umgang mit eigenen und fremden Erfahrungen des Lebens und des Glaubens befähigt.

3. Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht als Beitrag zum LEARNING FROM RELIGION

Nach Ulrich Kropač geht es im Religionsunterricht bildungstheoretisch um ein learning from religion. Von Religion zu lernen, bedeutet, durch Bezugnahme auf religiöse Erfahrungen und religiöses Leben Schüler*innen in ihren existenziellen Orientierungen zu unterstützen. (vgl. Kropač 2021a) Ein Lernortwechsel im Religionsunterricht vermag diesem Anspruch zu entsprechen. So wird religiöse bzw. existenzielle Orientierung an den Orten initiiert, an denen Religion in der Lebenswelt der Schüler*innen gelebt wird und mithin Fragen der christlichen Lebensdeutung und -führung in einer von Pluralität geprägten Umwelt aufbrechen können. Im Sinne des learning from religion ist für das außerschulische Lernen im Religionsunterricht die Begegnung mit Menschen an den Orten ihres Wirkens und Tuns konstitutiv. Der Gemeindepfarrer begrüßt eine Lerngruppe in der Kirche und erzählt bei einem Rundgang, warum die Kirche Teil seines Berufsalltags ist. Der Förster erklärt bei einem Waldspaziergang die Flora und Fauna seines Reviers und stellt sich den Fragen der Lerngruppe, wofür er selbst Verantwortung trägt.

4. Außerschulisches Lernen als Teil eines kompetenzorientierten Religionsunterrichts

Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht befördert einerseits allgemeine, fächerübergreifende Grundkompetenzen wie Selbst-, Sozial- und Methodenkompetenz, andererseits fachspezifische, auf den Religionsunterricht bezogene Kompetenzen. Es unterstützt vielfältige religionsdidaktische Lernformen (vgl. Kropač 2021b).

Die folgende Übersicht ordnet (in Auswahl) außerschulische Lernorte nach charakteristischen Kriterien, benennt religionsdidaktische Lernformen, die sich vielerorts initiieren lassen, und formuliert mögliche Kompetenzerwartungen an außerschulisches Lernen im Religionsunterricht.

Implizit religiöse Lernorte

Schule (mit Schulhof und Schulgarten), Straßen, Plätze (Spielplätze), Post, Bank, Bäckerei, Brücke

Bildungs- und Kulturorte, Medienwelten
Bibliothek, Theater, Museum, Zeitungsverlag

Zivilgesellschaftliche und politische Orte
Orte zivilgesellschaftlichen Engagements, Haftanstalt, Gericht, Rathaus, Landtag, Stadt

Orte der Arbeits- und Berufswelt
Fabrik, Betrieb, Werkstatt, Bank, Geschäft

Freizeitorte/Konsumorte, Sehnsuchtsorte
Musik- und Sportstätte, Kino, Einkaufsmall, auratische Orte

Religionsdidaktische Lernformen (in Auswahl)
Alltagshermeneutisches, (medien-)ethisches, religionshermeneutisches, biografisches Lernen

Kompetenzerwartungen
Die Schüler*innen

  • nehmen Orte als konkrete Beispiele ihrer Alltags- und Lebenswelt wahr und beschreiben sie,
  • deuten ihre gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Besonderheiten,
  • erkennen und erklären die lebensgeschichtliche Bedeutung der Orte,
  • tauschen sich aus ihrer je eigenen Perspektive über deren existentielle sowie lebensbedeutsame Bedeutung aus,
  • präsentieren im Unterricht ihre lebensweltlich relevanten Orte in gestalterischen und handlungsorientierten Formen.

Orte der Natur

Wald, Feld, Wiese, Park, Garten/Bibelgarten, Quelle, Getreidefeld

Third spaces-Orte/transitorische Orte
Brücke, Café, Marktplatz, Bahnhof, Autobahnkirche, Flughafen

Religionsdidaktische Lernformen (in Auswahl)
Symbolisches, ästhetisches, biblisches Lernen

Kompetenzerwartungen
Die Schüler*innen

  • nehmen Orte als Beispiele ihrer Alltags- und Lebenswelt wahr und beschreiben sie,
  • deuten sie (religiös-)symbolisch als Verdichtung elementarer Lebens- und Naturerfahrungen,
  • erkennen und erklären ihren persönlichen Symbolgehalt dieser Orte,
  • kommen über die symbolische Bedeutung mit anderen ins Gespräch,
  • bringen vom Ort ein Erinnerungsstück mit in den Unterricht und gestalten es als Symbolbild.

Orte der Religionen

Kirche, Moschee, Synagoge, hinduistischer Tempel, hinduistischer Kulturverein, buddhistisches Zentrum, Friedhof

Timeout-Orte – Orte anderer Zeiten
Kloster, Pilgerstätte

Diakonische und soziale Einrichtungen
Hospiz, Seniorenheim, Werkstatt für Menschen mit Behinderungen

Religionsdidaktische Lernformen (in Auswahl)
Religionshermeneutisches, interreligiöses, interkonfessionelles, konfessionell-kooperatives, soziales, biografisches, spirituelles, ethisches, diakonisches Lernen

Kompetenzerwartungen
Die Schüler*innen

  • beschreiben einen ASL als konkretes Beispiel ihrer Alltags- und Lebenswelt,
  • entdecken und benennen am außerschulischen Lernort grundlegende religiöse Ausdrucksformen und Phänomene der christlichen Religions- und Glaubenspraxis,
  • deuten einen ASL als Zeugnis der objektiven Seite der (christlichen) Religion,
  • deuten einen ASL als Zeugnis, anhand dessen Menschen in Geschichte und Gegenwart (als Gruppe oder einzeln) ihrer Religiosität eine sichtbare Gestalt gegeben haben,
  • erkennen und erklären am Ort Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Konfessionen und Religionen und bewerten sie kriteriengeleitet,
  • kommen am außerschulischen Ort als Ort der Begegnung mit Menschen verschiedener Herkünfte und Religionen über Gemeinsames und Fremdes ins Gespräch,
  • verstehen die am Ort ermöglichten Gespräche als Kommunikation über Fragen des Lebens und seinen Sinn,
  • wenden am Ort religiöse Ausdrucks- und Gestaltungsformen an (z.B. Singen),
  • präsentieren nach dem Besuch eines Ortes religiös relevante Inhalte in gestalterischen und handlungsorientierten Formen.

Gedenk- und Erinnerungsorte

Erinnerungsorte, Gedenkstätten, Bestattungsorte, Denkmäler

Religionsdidaktische Lernformen (in Auswahl)
interkulturelles, interreligiöses, erinnerungsgeleitetes, biografisches, (kirchen)geschichtliches Lernen

Kompetenzerwartungen
Die Schüler*innen

  • nehmen den Gedenk- und Erinnerungsort als einen besonderen Ort bzw. als Stätte praktizierter Erinnerung und praktizierten Gedenkens wahr und verhalten sich entsprechend,
  • deuten die vorfindlichen Zeichen und Symbole als Ausdruck der Erinnerung und des Gedenkens und erklären deren Bedeutung,
  • nehmen im Gegenüber zu den an Erinnerungs- und Gedenkorten vorfindlichen Phänomenen und Symbolen die eigenen Erfahrungen mit Tod, Erinnern und Vergessen wahr, beschreiben sie und bringen sie in den Kontext des Lebens und der Lebensgeschichte,
  • entdecken die Orte als Gesprächsort für Fragen an das Leben und dessen Sinn.

5. Didaktische und methodische Kriterien außerschulischen Lernens

In der Praxis des außerschulischen Lern-Alltags haben sich bestimmte Kriterien bewährt, an denen sich auch Religionslehrer*innen orientieren können.

5.1 Drei-Phasen-Modell der Integration außerschulischer Lernorte in den kompetenzorientierten (Fach-)Unterricht

Der didaktische Dreischritt von Wahrnehmen, Deuten und Handeln ist für alle Lernort-Erkundungen konstitutiv. Er markiert einen angemessenen didaktisch-methodischen Erschließungsweg für die Schüler*innen. Hierbei stehen die sinnenhafte Wahrnehmung, das subjektiv Eindrückliche (Empfinden und Deuten) sowie das tätige Be-greifen (Handeln und Gestalten) im Vordergrund.

So können die Erschließungsschritte am Lernort Friedhof aussehen:

1. Wahrnehmen
  • Wie nehme ich die Friedhofsanlage insgesamt wahr?
  • Wie wirkt der Friedhof auf mich? Was fühle oder empfinde ich auf ihm? (Atmosphäre)
  • Welche verschiedenen Bereiche (Areale) des Friedhofs nehme ich wahr? (z.B. verschiedene Gräber, grüner Rasen, Urnengräber, Friedhofskapelle)
  • Was sehe ich auf den Gräbern?
  • Was sehe ich auf den Grabsteinen? (z.B. Motive, Symbole, Inschriften)
  • Wen sehe ich auf dem Friedhof (z.B. Besucher, Friedhofsbeschäftigte)?
2. Deuten
  • Warum fühle oder empfinde ich so auf dem Friedhof?
  • Woher kommt diese besondere Atmosphäre?
  • Was sagen die Gräber und Grabsteine? (Dechiffrieren und Deuten der Motive, Symbole, Inschriften)
  • Warum halten sich hier Menschen auf dem Friedhof auf und was bedeutet der Ort ihnen?
3. Handeln bzw. Gestalten
  • Wie kann ich meine Eindrücke und Deutungen am Ort kreativ gestalten (z.B.Elfchen schreiben, zeichnen) (vgl. Schulte 2015, 150-163)

5.2 Methodischer Dreischritt eines außerschulischen Lernort-Besuchs

Zu einem guten außerschulischen Lernorte-Alltag gehören

  • eine gute Vorbereitung des Lernortbesuchs  - Die Schüler*innen finden Fragen, entdecken Problemstellungen, formulieren mögliche Ziele, wählen anwendbare Methoden aus. Aus Gründen der Pietät verbietet sich der unvorbereitete Besuch einiger ASL (z.B. Hospiz, Holocaustgedenkstätte).
  • eine sorgfältige Durchführung des Unterrichts am Lernort - Die Schüler*innen sammeln Eindrücke, machen Erfahrungen, sind handelnd tätig, dokumentieren (medial vielfältig) in gebotener Kürze ihre ersten Erkenntnisse.
  • eine intensive Auswertung bzw. Nachbereitung und Rückkoppelung zum Schulzimmer - Die Schüler*innen rufen ihre Erinnerungen ab, bringen ihre Ergebnisse gestalterisch zum Ausdruck und werten sie aus.

Bei diesem methodischen Dreischritt ist der Zusammenhang von systematisiertem Lernen in der Schule und den Erfahrungen, Fragehaltungen und dem neuen, außerschulisch erworbenen Wissen besonders augenfällig.

In der Zusammenfassung gilt: Die Besuche außerschulischer Orte genügen nicht sich selbst. Die Einbindung in den Schulunterricht ist unverzichtbar. Anderenfalls würden die vielen Orte des außerunterrichtlichen Lernens ihren pädagogischen Wert einbüßen und zu beliebigen Eventstätten mit oberflächlichem Schauen und flüchtigem Erleben werden. Deshalb sind eine unterrichtliche Vorbereitung sowie eine reflektierende Nachbereitung unverzichtbar, denn sie gewährleisten die Einordnung der außerschulischen Lernerträge in den bisherigen Wissenshaushalt der Schüler*innen. Demnach reicht es auch nicht, sich mit dem hohen Motivationspotenzial der Orte zu begnügen. Fachdidaktische Inszenierungen sind unerlässlich, die die Bedeutung des ausgewählten Lerninhalts für die Lerngruppe sowie der damit verbundenen Ermöglichung von Erfahrung im Blick haben. (vgl. Erhorn/Schwier 2016, 8)

6. Zu guter Letzt: Außerschulisches Lernen im Religionsunterricht als WORK IN PROGRESS

Nach meiner Einschätzung ist das Potenzial außerschulischen Lernens im Religionsunterricht bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Neue Herausforderungen religiöser Bildung an der Schule (Digitalisierung, Religionsunterricht in den Kontexten von Gemeinde und Öffentlichkeit sowie in Kooperation mit anderen Schulfächern, religiöse Heterogenität der Schülerschaft, neue Organisationsformen des Religionsunterrichts) sowie neue Erkenntnisse in den bildungsbezogenen Wissenschaften werden den Lernorte-Alltag didaktisch und methodisch zur weiteren Entwicklung und kreativen Ausgestaltung verhelfen. In aller Vorläufigkeit nenne ich exemplarisch drei Aufmerksamkeitsrichtungen.

  1. Ort – Raum - Bildung

Angela Kaupp hat den Begriff der RaumBildung geprägt, der meines Erachtens zur weiteren Profilschärfung außerschulischen Lernens im Religionsunterricht beiträgt. (vgl. Kaupp 2016, 127-144) Schüler*innen, die bestimmte Orte außerhalb der Schule besuchen, nehmen diese allererst als konkrete physische Orte wahr, die es abzuschreiten, zu vermessen, wahrzunehmen gilt. Darüber hinaus gilt religionspädagogisch insbesondere: Orte sind untrennbar mit Menschen verbunden, die diese in Gebrauch nehmen. So werden Orte zu Räumen. Diese Perspektive motiviert dazu, Menschen in ihren Raumbezügen verstehen zu lernen, mithin Raumbildung zu ermöglichen und dementsprechende Kompetenzen zur Geltung zu bringen: die Materialität des Raums und seiner Einrichtung (d.h. seiner dinglichen Konstitution) be-greifen; die Botschaft des Raums wahrnehmen; den Umgang mit Atmosphären lernen; die Fähigkeit zur atmosphärischen Inszenierung des Raums ohne das Zutun von Hilfsmitteln. Räume selbst sind auf (religiöse) Bildung hin offen, geben Kunde von den sich darin ausdrückenden (religiösen) Erfahrungen und religiöser Praxis von Menschen und initiieren so ein learning from religion.

2. Ort – Objekt – religiöse Praxis

Orte sind untrennbar mit Dingen und Phänomenen verbunden, die an ihnen vorzufinden sind. Schüler*innen sind beispielsweise gehalten, die „Einrichtungsgegenstände“ in einer Kirche ausfindig zu machen, zu benennen und zu erklären (Altar, Kanzel, Taufbecken, Orgel etc.). Als Neuzugänge im Wissenshaushalt der Lernenden werden diese zu (Bildungs-)Akteuren im Netzwerk Unterricht. (vgl. Büttner u.a. 2019) Sie tragen dazu bei, das Wissen der Kinder und Jugendlichen über Kirchen anzureichern. Einerseits! Andererseits sind sie Objekte und Artefakte im Kirchenraum und als solche wesentliche Akteure einer religiösen Praxis. Als solche werden sie zu (Praxis)Akteuren im Netzwerk ritueller Vollzüge von Gottesdiensten. Vor diesem Hintergrund tragen sie dazu bei, dass die Lernenden die Perspektive wechseln und im Sinne eines learning from religion für die Praktiken religiösen Lebens sensibilisiert werden. Demzufolge wird religionsdidaktisch nach dem vieldeutigen Umgang mit den Dingen und Artefakten im Kontext von Ortserkundungen zu fragen sein.

3. Ort – originale Begegnung vs. Virtualität

Eine Didaktik außerschulischer religiöser Lernorte steht und fällt mit dem pädagogischen Prinzip der „originalen Begegnung“ der Lernenden mit den am „Ort des Geschehens“ auffindbaren Phänomenen. Ein digitaler Religionsunterricht kann überdies die Möglichkeiten virtueller Räume nutzen und im Unterricht virtuelle Lernorte aufsuchen, deren Besuch der normale Schulalltag nie realisieren könnte. Vor diesem Hintergrund ist anzufragen, welchen Einfluss die zunehmende Virtualität unserer Wirklichkeit auf die Kernideen einer Didaktik außerschulischer Lernorte haben wird bzw. welche Impulse damit für eine Fortschreibung des außerschulischen Lernens im Religionsunterricht gegeben werden. Die Materialität der Orte wird sich der zunehmenden Virtualität von Räumen ins Verhältnis bringen müssen. Ob wir überdies weiterhin von außerschulischem Lernen im eigentlichen Sinne sprechen können, bleibt fraglich.

Eine erste Abfrage unter Lehramtsstudent*innen zu den Möglichkeiten und Grenzen des Lernens an virtuellen Orten im Religionsunterricht ergab das folgende Bild:

Möglichkeiten Grenzen
flexible Verfügbarkeit (jederzeit, überall) technische Voraussetzungen
flexible Nutzung Medienkonsum
geringerer Organisationsaufwand Abbau sozialer und kommunikativer
störfreie Erkundung Kompetenzen
mehrsprachliche Präsentation einseitige Sinneswahrnehmungen
Lebensweltorientierung vorgegebene virtuelle Darstellung
Förderung digitaler Kompetenz eingeschränkte Mobilität
veränderte Einstellung zum Religionsunterricht eingeschränkte Transformation vom Ort zum Raum

Abschließend in Auswahl einige Links zu virtuellen Raumerkundungen:

Zur Autorin:

Prof. Dr. Andrea Schulte ist Professorin für Religionspädagogik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt. Nach Abschluss ihres Lehramtsstudiums (Evangelische Theologie, Anglistik) und anschließendem Vorbereitungsdienst in Düsseldorf wurde Andrea Schulte 1991 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert. 1998 habilitierte sie sich an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Seit 2001 ist sie Inhaberin der Professur für Religionspädagogik an der Universität Erfurt. Auf Stippvisite ins Ruhrgebiet kommt sie immer gern, denn dort schwelgt Sie in Erinnerungen.

Literaturverzeichnis

Büttner, Gerhard/ Mendl, Hans/ Reis, Oliver/ Roose, Hanna (Hg.). Praxis des RU. Jahrbuch für konstruktivitische Religionsdidaktik 10. Babenhausen 20219.

Erhorn, Jan/Schwier, Jürgen. Außerschulische Lernorte. Eine Einführung. In: Erhorn, Jan /Schwier, Jürgen (Hg.). Pädagogik außerschulischer Lernorte. Eine interdisziplinäre Annäherung. Bielefeld 2016, 7-13.

Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian. Zur Einführung. In: Karpa, Dietrich/Lübbecke, Gwendolin/Adam, Bastian (Hg.). Außerschulische Lernorte. Theorie, Praxis und Erforschung außerschulischer Lerngelegenheiten. Immenhausen bei Kassel 2015, 7 – 27.

Kaupp, Angela. RaumBildung – der Gewinn eines „spatial turn“ für die Praktische Theologie. In: Kaupp, Angela (Hg.). (unter Mitarbeit von Andrea Spans). Raumkonzepte in der Theologie. Interdisziplinäre und interkulturelle Zugänge. Ostfildern 2016, 127-144.

Kropač, Ulrich. Religiöse Bildung. In: Kropač, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.). Handbuch Religionsdidaktik. Stuttgart 2021a, 17-28.

Kropač, Ulrich/Riegel, Ulrich (Hg.). Handbuch Religionsdidaktik. Stuttgart 2021b, 255-331.

Schulte, Andrea. Jeder Ort – Überall! Didaktik außerschulischer religiöser Lernorte. Stuttgart 2013.

Schulte, Andrea. Außerschulische Lernorte – Zur Theorie und Praxis. In: Heindel, Christian/Paintner, Angelika (Hg.). Katholische Religion. Didaktik für die Grundschule. Berlin 2015, 150-163.

Schulte, Andrea. Außerschulische Lernorte. Berlin 2019.