Herzlich willkommen zu diesem Artikel. Das Thema finde ich total spannend. Schade nur, dass ich etwas dazu schreiben soll und Sie es nur lesen. Viel lieber würde ich in ein Gespräch mit Ihnen eintreten. Denn die Frage, wie wir heute unsere christliche Identität leben, ist ja eine, die sich uns allen stellt und auf die wir in unserem Alltag auch alle eine Antwort geben – mehr oder weniger bewusst. So gesehen passt es gut, dass unser Titel mit einem Fragezeichen endet. Wie Sie also Ihre christliche Identität leben, entscheiden Sie. Welche Gedanken mir zu dem Thema durch den Kopf gehen, schreibe ich Ihnen hier.
In meinem Umfeld (und ich schließe mich da nicht aus) nehme ich starke Irritationen wahr, was die eigene christliche Identität angeht. Dabei mache ich sozusagen drei Ebenen aus: kirchlich, gesellschaftlich und spirituell.
In gewisser Weise naheliegend wäre es, mit Spannungen und Rissen in der institutionellen kirchlichen Ebene zu starten, weil sie – nicht zuletzt durch den Missbrauchsskandal – medial oben auf liegen. Im Blick auf unser Thema finde ich die spirituelle Ebene viel interessanter und fange lieber dort an:
Der große Theologe Karl Rahner hat schon vor über 40 Jahren – nahezu prophetisch - gesagt, „der Christ der Zukunft wird ein Mystiker sein, oder er wird nicht mehr sein.“ Und er hat das damit begründet, dass die äußeren Formen, die die Kirche zusammenhalten, an Bedeutung verlieren werden. Und genau so ist es ja auch gekommen. Würde man heute noch das Christsein am regelmäßigen Besuch der sonntäglichen Eucharistiefeier festmachen, so gäbe es in Deutschland kaum noch Christen. Vor allem jüngere Christen gäbe es kaum noch. Für mich als Kind war es früher pure Selbstverständlichkeit, sonntags in die Messe meiner Gemeinde zu gehen. Das war damals auch ein wesentlicher Ausdruck meiner christlichen Identität. Heute sieht das anders aus. Wenn ich aber meine Identität nicht auf diese Weise zum Ausdruck bringe und sie nicht darüber finde, etwas mit anderen zusammen zu machen, wie und wo finde ich sie dann? Rahners Vermutung war: indem der Christ ein „Mystiker“ ist. Der Begriff ist etwas sperrig. Rahner selbst präzisiert es als eine innere Erfahrung mit Gott haben.
Eine große Freude ist es für mich immer, Erwachsene auf ihrem Weg zur Firmung zu begleiten. Die Weggeschichte jeder Person ist individuell anders und das ist für christliche Identität heute ein wichtiges Merkmal. Es gibt vielfältige Formen christlicher Identität (vgl. 1 Kor 12). Sie bestehen nebeneinander und jede ist wertvoll. In der polnisch- oder italienisch- christlichen Kultur zum Beispiel ist die Form noch stärker prägend als in der deutsch-christlichen Kultur. Hier reicht die Form in der Regel nicht mehr aus, sondern bedarf (zusätzlich) starker innerer Erfahrungen. Dies sind nicht immer, aber häufig, Erfahrungen aus existentiell herausfordernden Situationen. Christliche Identität heute tut sich leichter mit einer Bewährung des christlichen Glaubens in der Krise.
Mitten in der Kirchenkrise: Erwachsenen-Firmung >>>
Auch bei mir selbst hat sich der gelernte und geübte Glaube in persönlichen Krisen bewährt. Deswegen ist er mir heute noch so wertvoll und nicht (nur), weil ich ihn so lange gelernt habe. Wenn ich andere Menschen in der Krise begleite und spüre, wie sie wieder Boden unter die Füße bekommen, dann freut mich das sehr für sie. Zugleich habe ich den Eindruck, dass wir zwei nicht allein sind, sondern dass ein dritter bei uns ist, der sich ebenfalls sehr freut über das, was geschieht. Das Bild der beiden Jünger, die nach Emmaus gehen, drängt sich mir auf.
Für die spirituelle Vertiefung meines Glaubens hat mir die Beschäftigung mit der Bibel sehr geholfen. Auf den ersten Blick sind viele Geschichten sehr sperrig und sie erschließen sich nicht sofort. Aber auf den zweiten, und wenn man sie mit der kulturellen Situation ihrer Entstehung zusammen sieht, sprechen sie eine sehr aktuelle Sprache: Das liegt daran, dass die meisten existentiellen Herausforderungen im menschlichen Leben über die Jahrtausende gleich geblieben sind. Viele biblische Geschichten sind Aufbruchsgeschichten. Sie können uns helfen, die in unserem Leben bestehenden Herausforderungen offensiv anzugehen. (Abraham, Exodus, Exil, Jesus, Paulus …).
Der verlorene Sohn als Vorbild
Pharisäer und Schriftgelehrte beschweren sich bei Jesus, dass er sich mit Zöllnern und Sündern trifft. Daraufhin erzählt Jesus ihnen das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Aus dem Kontext ist klar, dass seine Zuhörer eher dem daheim gebliebenen Sohn ähneln. Sie haben im Leben nichts gewagt, sind in der Gegenwart des Vaters und nörgeln rum über andere, zu denen ihr Vater liebevoll ist. Vermutlich hätten sie mehr vom Vater „verstanden“, wenn auch sie aufgebrochen und heimgekehrt wären. (Lukas 15,11-32)
Dies bedeutet für mich, dass christliche Identität vielleicht viel weniger mit bewahren und alles beim Alten lassen zu tun hat, sondern eher mit aufbrechen und den christlichen Weg in der Gegenwart neu suchen. Als Institution Kirche tun wir uns da in der Tat seit langem sehr schwer, weil sich das „Bewahren“ in den Vordergrund geschoben hat. Aber wenn ich den Kern der Botschaft bewahren will, muss ich sie in einer sich verändernden Welt anders ausdrücken lernen. Dies wird mir aber nur gelingen, wenn ich mich vom Kern der Botschaft inspirieren lasse und nicht an den kulturell ausgeprägten Formen kleben bleibe. Ich finde es immer sehr hilfreich, Dinge auf den Punkt zu bringen, um klarer zu sehen. Was ist für Sie der Kern der christlichen Botschaft? Lassen Sie die Frage mal sacken und probieren Sie für sich eine Antwort. Jesus hat das auch getan und gesagt: „Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Darin sind alle Gebote enthalten. Mit dem ersten Johannesbrief dürfen wir das Wort „Gott“ auch durch „Liebe“ ersetzen: „Glaube an die Liebe und liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Zur christlichen Identität gehört es, sein Herz an die Liebe zu hängen und nicht an Reichtum, Macht oder Ansehen. Sie ahnen schon, dass dies das konkrete Tun verändern wird.
Jetzt ist ein guter Zeitpunkt um über die Kirche zu sprechen. Wenn wir an die Institution denken, sehen wir sofort, dass sie in die Irre geht, wenn sie sich nicht zuerst an der Liebe, sondern an Reichtum, Macht oder Ansehen orientiert. Solcherlei Irrwege werden gerade aufgedeckt, das ist sehr schmerzhaft aber nötig. In erster Linie ist es notwendig für die Opfer, damit ihre Wunden etwas besser verheilen können. Und es ist ganz wichtig, damit die Institution Kirche nicht neue Opfer produziert. Wir beginnen gerade erst das Ausmaß des Schreckens zu sehen und ich hoffe, dass dies meine Kirche grundsätzlich verändern wird. Daneben hat auch die Institution Kirche ihre guten Seiten. Zum Beispiel hält sie das Gespräch über den Glauben wach, bringt uns zusammen, unseren Glauben zu feiern und sie engagiert sich in caritativen Aufgaben, z.B. in Caritas, Kindergärten, Schulen(!), Krankenhäusern, Notfallseelsorge, geistliche Begleitung uvm.
Daneben ist Kirche aber auch die Gemeinschaft von Ihnen und mir und vielen, die versuchen als Christen in dieser Welt zu leben. Alleine Christ sein ist schwierig bis unmöglich. Das gemeinsame Unterwegssein, gehört zu unserer Grundmatrix. Ich z.B. lebe sehr von dem Austausch mit anderen, mit denen ich unterwegs bin und davon, dass es auch andere gibt, die meine Werte teilen und versuchen danach zu leben. Gerade der Apostel Paulus hat die ersten christlichen Gemeinschaften sehr ermutigt, respektvoll, wertschätzend und einander helfend miteinander umzugehen. Sie werden so zu einem Zeichen für Christi Gegenwart in dieser Welt. Auch wir sind eingeladen so zu leben.
Mit Paulus sind wir auch in der Gesellschaft angekommen. In einer „Gemeinde“ waren damals nur wenige Christen (vielleicht gehörten 20-30 Leute zu einer jungen Gemeinde, die sich einfach bei irgendwem im Haus getroffen haben). So einfach fing es an und so einfach könnte es auch wieder werden. Denn wir erinnern uns: es geht nicht um Reichtum, Macht oder Ansehen. Es geht vielmehr darum, dass wir Christen den Gedanken der Liebe in unserer Gesellschaft hoch halten. Früher haben wir das als gesellschaftliche Lobbyisten tun können. Da schwindet unsere Gestaltungsmacht. Aber nichts hindert uns daran, in unserem Umfeld für unsere Werte einzustehen und zu versuchen sie zu leben. (Viele katholische Schulen sind ein gutes Beispiel, dass dies gelingen kann.)
Mit dem Erstarken der AfD und Trumps Präsidentschaft in Amerika, nicht zuletzt Putins Angriffskrieg in der Ukraine, ist mir deutlich geworden, wofür ich stehe und was ich nicht möchte. Vorher schien mir das Christliche im christlichen Abendland selbstverständlich. Aber inzwischen habe ich begriffen, dass es nicht so ist. Es braucht immer wieder eine Entscheidung für diese Art liebevoll und solidarisch (da ist partiell viel Luft nach oben) miteinander zu leben. Dies ist eine Anfrage an unsere christliche Identität. In unserer modernen Gesellschaft gewinne ich in der Regel Identität nicht mehr dadurch, dass ich bestimmte Vorgaben der Kirche – wie etwa den Besuch der Sonntagsmesse - einhalte. Heute bin ich selber ganz anders gefragt:
- Welchen Lebensstil kann ich verantworten? Mit dem Flugzeug fliegen? Fleisch essen? …?
- Wie komme ich mit anderen Christen in eine Gemeinschaft?
- In welchen Zeichen und Statements drücke ich meinen Glauben aus?
- Wie kann ich für meine Mitmenschen zum Segen werden?
- Welche spirituellen Inputs organisiere ich für meinen Glauben? Aus welchen spirituellen Quellen lebe ich?
- Wie „verstehe“ ich als vernünftiger Mensch des 22. Jahrhunderts meinen Glauben? Setzen Wunder für mich die Naturwissenschaft außer Kraft oder sind es vielmehr Zeichen und innere Aufbrüche? (Der Evangelist Johannes spricht nie von Wundern, sondern immer nur von Zeichen.)
- Worauf hoffe ich und wie prägt das mein Leben?
- …
Wenn Sie Spannungen spüren, weil Ihr Kinderglaube nicht zu Ihrer Weltsicht als Erwachsener passt, setzen Sie sich mit Ihrem Glauben auseinander – nach meiner Erfahrung lohnt es sich. Auch dies scheint mir für eine christliche Identität heute meist unumgänglich.
Zu guter Letzt: die Geschichte mit dem Kreuz
„Durch Christi Tod am Kreuz sind wir von unseren Sünden erlöst.“ Dieser Satz scheint auf den ersten Blick heute kaum noch anschlussfähig. Wovon sollten wir erlöst werden müssen und warum musste Christus dafür am Kreuz sterben?
Bei manchen Zeitgenossen, denen ich begegne, denke ich spontan: der (oder die) sieht total unerlöst aus. Bei manchen Zeitgenossen, denen ich begegne, lebe ich spontan auf, weil ich mich angenommen und respektiert fühle. Meist sehe ich unerlöst aus, wenn ich gerade meine, mir „Ansehen, Reichtum oder Macht“ unter schwierigsten Bedingungen erkämpfen zu müssen. Dabei brauche ich das gar nicht, weil Gott (die Liebe) doch schon längst auf meiner Seite ist. Klar ist das Leben trotzdem manchmal sehr herausfordernd. Mir tut es dann gut, inne zu halten und mich zu vergewissern: es gibt mindestens einen, der auf meiner Seite steht. Und oft merke ich dann, was ich alles auch nicht erarbeiten oder erkämpfen muss. Erlösung kommt, wenn die Liebe siegt. Deswegen ist Leid und Tod eine echte Gefahr für die Liebe.
Unser Gott hat als Mensch den Weg der Liebe nicht verlassen. Das hat die, denen es um Ansehen, Reichtum und Macht geht, gegen ihn aufgebracht. Letztlich haben sie ihn umgebracht. Er hat sich dem nicht entzogen, sondern ist mit den Leidenden dieser Welt solidarisch geblieben bis in den Tod. Wir Christen dürfen glauben, dass die Liebe stärker ist als Leid und Tod. Wir brauchen nicht verbissen eine heile Welt herstellen – aber wir dürfen uns voller Engagement für mehr Frieden und Gerechtigkeit einsetzen.
Auf diesem Weg können wir uns gegenseitig stärken und von Gott stärken lassen beim Feiern von Gottesdiensten, im Gespräch und Suchen mit anderen auf dem Weg, in der Stille allein mit mir und Gott, in der Natur, im Hören auf Gottes Wort in der Bibel, im gemeinsamen Tun für andere und mit anderen.
Weil wir alle anders sind, haben wir auch andere Bedürfnisse auf unserem jeweiligen Weg, unsere christliche Identität zu leben. Ich mag Sie sehr ermutigen nach Weggefährten Ausschau zu halten und nach Impulsen, die Ihnen auf Ihrem Weg helfen können, denn: Sie sind nicht allein unterwegs.
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Zum Autor:
Nico Klimek arbeitet als Referent im Bereich Glaubenskommunikation und initiiert gerne Veranstaltungen, bei denen man über den eigenen Glauben ins Gespräch kommt. Nebenbei leitet er das Bibelwerk im Bistum Essen und entdeckt die Bibel neu für sich. Wenn er nicht gerade Krimis schaut, kann man ihn beim Sport, Bogenschießen oder Meditieren treffen.….
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